Das bekannteste und gebräuchlichste Jom-Kippur-Gebet heißt Kol Nidre ("alle Gelübde" auf Englisch). Kol Nidre ist das Gebet, das kurz vor Sonnenuntergang, neun Tage nach Rosh Hashanah, gesprochen wird.
Während andere Gebete während Jom Kippur gesprochen werden, gilt Kol Nidre als das zentrale Gebet zum Tag der Versöhnung. Es ist insofern ein ungewöhnliches Gebet, als die gesprochenen Worte weder Lob noch Bitte, sondern im Wesentlichen eine Beschwörung des Rechtskodex sind. Das Kol Nidre ist auch auf Aramäisch und nicht auf Hebräisch.
Die genaue Geschichte des Gebets ist etwas unklar, aber die meisten Gelehrten glauben, dass seine Botschaft des Verzichts auf Eide eine Reaktion auf Bekehrungen war, zu denen Juden möglicherweise durch Christen oder Muslime gezwungen wurden. Da die jüdische Religion verbale Eide und Verpflichtungen als ernsthafte metaphysische Gesten ansieht, meinen viele, dass sich das rituelle Gebet als Erinnerung vor dem Tag der Versöhnung entwickelt hat, dass man Jom Kippur mit reinem Gewissen beginnen muss, nachdem man alle zuvor geleisteten Eide aufgegeben hat; zum Beispiel eine Bekehrung zu einem anderen Glauben unter Zwang.
Die Musik, zu der das Gebet vom Kantor gesungen wird, ist eine alte Melodie, etwas traurig und eindringlich. Die Legende besagt, dass die Melodie selbst "missinai" war oder mit Moses vom Berg Sinai herabkam.